Kurzprosa von Kerstin Liemann
Sichtweisen
„Das Bogenschießen ist ein Weg zu Gelassenheit und Glück,“ sagte der Zen-Buddhist. „Im Jetzt des Augenblicks, in der Einheit von Körper und Geist, betrete ich das Tor zum Leben in seiner ganzen Schönheit und Kraft. Am Ort meiner Übung bleibe ich stehen und verneige mich vor der Welt, vor mir selbst, vor dem Göttlichen in mir und in allem, was mich umgibt. Ich mache mir das Glück des Augenblickes bewusst. Ich suche einen festen Stand, schaffe eine feste Verbindung zur Erde. Fühle, wie meine Energie in sie hineinfließt und die Energie der Erde in mich. Ich werde mir meines Bogens und des Pfeiles bewusst und lege achtsam den Pfeil an. Ich halte inne und leere meinen Geist. Es gibt nur noch den Bogen, den Pfeil und mich, wir sind eine Einheit. Meine Aufmerksamkeit entledigt sich aller äußeren Einflüsse, sie ist im Hier und Jetzt. Ich atme ruhig, hebe den Bogen, spanne die Saite und dann, im Augenblick vollendeter Ankunft im Momentum der Stille, lasse ich los.“
Lächelnd schaute er sein Gegenüber an.
„Wenn ich jemals so gehandelt hätte, wäre ich längst tot“, sagte der Krieger.