Prosa von Volker Overdick
Risiko-Begegnungen oder Der Minister für Fremden-Verkehr rät ab
Der geschätzt vierzig Meter breiten Canale Grande präsentierte sich dem Betrachter, vor allem nach dem Verschwinden des Tageslichts, wie eine durch die Stadt auf dem Wasser getriebene Bresche. Die Spiegelrefiexkamera eines deutschen Touristen sammelte das von einer Komposition aus hochschnäbeligen Gondeln am Gegenufer und einem Barock-palazzo zurück geworfene künstliche Licht. Nachdem der Venedig-Besucher nach fünf oder zehn Sekunden das Geräusch des zuschnappenden Verschlusses vernommen hatte, beließ er die Kamera auf dem Stativ montiert, klappte es zusammen und zog mit seinem Fotogepäck in den Händen und im Rucksack davon.
Sogleich verschlangen ihn die aus den Zwischenräumen von Häusern gebildeten steinernen Trakte. Eine einsame Glühbirne beleuchtete nach Kräften die unter ihr befindliche, stille Szenerie. Erneut spreizte und platzierte der Mann das Aluminiumdreibein mit dem Apparat darauf; dahinter kauernd richtete er den Fotoapparat aus und drückte das Knöpfchen am Ende des fiexiblen Drahtauslösers.
Er täuschte sich nicht, wieder hatte der Regen eingesetzt, nieselnd. Der Niederschlag wurde stärker. Der geplagte Fotoamateur wich mit seiner ungeschützten Apparatur unter ein Baugerüst aus und zerlegte sie dort.
Während er hockend das technische Zeug verstaute, dabei bemüht, den Ursprung des auf dem alten Pflaster, neben sich, ausgebreiteten Fleckens nicht allzu genau zu ergründen, nahmen nebenan, unter einer Markise, Restaurantgäste ein spätes Mahl ein.
Der Tourist war sicher, dass die mit erstaunlich geringem Aufwand bewerkstelligten Nachtaufnahmen gelungen waren, obwohl er dessen erst gewiss sein konnte, wenn der Diafilm entwickelt und in Streifen geschnitten beim Fotohändler auf dem Leuchtpult lag, damit er, der Kunde, die Ergebnisse seines Fotoexkurses prüfen konnte.
Das wechselhafte Wetter wurde lästig. Der Fototourist bedauerte, dass es ihm nur die wenigen Nachtaufnahmen gewährte, die er nun im Kasten hatte. Speziell wegen der Nachtaufnahmen war er in den frühen Abendstunden in Mestre, von Camping Rialto, aufgebrochen. Mit einer Hand den Regenschirm zu halten und darunter mit der zweiten an der Kamera zu fummeln, war ihm zu akrobatisch. Er war Amateur und musste daheim keinem Auftraggeber einen Satz Fotos auf den Tisch knallen. Lieber verzichtete er.
Als die Sachen verpackt waren und er aufsah, stellte er fest, dass mit der von ihm eher zufällig gewählten Route vor einem kleinen Kanal Schluss war. Das schräg vor ihm buckelnde Brückchen war von seinem derzeitigen Standort nicht in direkter Linie erreichbar, sondern erst nach einem Rückzug hinter unüberschaubar massierte Häuser mit Lücken, die in rechten Winkeln launisch bald nach rechts, bald nach links, sprangen.
Abgesehen von der Frage, ob der Weg über die Brücke überhaupt der richtige sei, gab es für einen Fußgänger an dieser Stelle kein Weiterkommen.
Der Stadtbesucher ließ die, wie üblich, in der Mehrzahl auftretenden und zwanghaft redenden Menschen im Lichtschein des Lokals hinter sich. Er hoffte, bald auf Hauswänden die in schwarz gesprühten Pfeile mit dem Zusatz „Ferrovia — Eisenbahn“ zu entdecken. Von der Piazza San Marco leiteten sie die Touristenströme durch das Innere von Venedig, durch einen Irrgarten aus Gebäuden, auch zu den Buskais nahe des Bahnhofs. Von diesen Zeichen fand er keines.
Seinen auch in Großstädten nützlichen Kompass trug er im Rucksack. Das vorhandene Licht war aber zu spärlich, urn die Markierungen auf der Kompassdose abzulesen, und die kleine, vielseitig verwendbare Stablampe schlummerte im Autokofferraum, auf dem Zeltplatz in Mestre.
Der Mann auf den Trekkingsandalen schickte einen Blick durch einen von zwei Häusem gebildeten Spalt, der einlud, die Zick-Zack-Strecke zu der größeren Quergasse abzukürzen, von der er nur einen schmalen Ausschnitt sah. Dem Alleinreisenden grauste bei dem Gedanken, zwischen den, mit bloßen Augen erkennbar, einander zugeneigten Mauern stecken zu bleiben. Würden die Venezianer eines der beiden Häuser abreißen, ihn zu retten, wenn er eingeklemmt wäre, oder würde er, über seinen langsamen Tod hinaus, zum Skelett abmagem, bis dann ganz schlanke Italiener zu ihm vordringen und seine Überbleibsel zusammenkehrten?
Je länger sich sein Aufenthalt in den Abend erstreckte, desto mehr geriet die Gassenstruktur für den Ortsunkundigen zum Labyrinth. Woher und wohin er auch gelangte, voran kam er nicht.
Im gauklerischen Halbdunkel, in dem nicht nur alle Katzen grau sind, sondern ein gewichtiges, gebündeltes Fotostativ im Henkelköcher kaum von einem Oboenkoffer oder einem schweren Maschinengewehr zu unterscheiden war, drängte ihn wiederum eine Wasserstraße ab.
In dem Bogengang, wo er unterwegs war, stand, einige Meter vor ihm, eine weibliche Gestalt, die mit den Händen ein Tuch über ihre Stim spannte, um, wie nahe lag, den schwachen Regen abzuwehren und obschon der sie neben den Bögen, unter dem Bauwerk, nicht beeinträchtigte.
Seitlich zu ihr, im Hintergrund, bemerkte der friedliche Besucher wieder eine über die Wasserfläche gewölbte Brücke, so beschaffen, dass Boote von den ungefähren Maßen einer Gondel, nicht jedoch sperrige Schwimmvehikel, unter ihr passieren konnten.
Der Tourist fragte nach der Richtung des Piazzale Roma. Während die Angesprochene antwortete, hörte er, dass er eine Ausländerin vor sich hatte, denn statt des treffenden italienischen Wortes für „Gasse“ gebrauchte sie den geläufigeren Begriff für „Straße, und statt „breit“ verwendete sie „groß“. Den Weg zum Piazzale Roma wisse sie nicht. „Eine größere Straße“ sei — sie wies mit dem linken Arm durch die begehbare Lücke zwischen den Häusern, durch die der Fremde sowieso mußte, weil der Gang dahin abknickte — da und da, und bei ihren Angaben wechselte sie ein paarmal zwischen den Wörtern far rechts und für links, damit der Stadtbesucher, das meinte sie, den Anschluß an die gekennzeichneten Passagen wieder fände.
Sie kenne aber den Weg zum vaporetto, zum Wasserbus.
Der um Auskunft Verlegene entgegnete, er könne nur auf seine Füße vertrauen, da er den letzten Bus nach Mestre bekommen müsse.
Bereits einige Schritte von ihr entfernt, drehte er sich um und fragte unaufrichtig: „Kann ich lhnen helfen?“
Sie suche eine Straße und erwähnte dazu eine Hausnummer. Er, der unvorsichtigerweise die Floskel mit dem Hilfsangebot geheuchelt hatte, dachte an seinen Stadtplan von Venedig, aber auch, dass er nicht eine Nacht in einer nassen Stadt gefangen sein wollte. Er konnte daher keine Zeit dafür erübrigen, mit der ihm eher unbequemen Frau vor der Schattenkulisse dieser amphibischen, jahrhundertealten Stadt auf seinen ehedem unzulänglichen Stadtplan zu starren und anschließend der Unbekannten zum Auffinden der gewünschten Haustür zu verhelfen.
Obwohl er hier und da kleine Gesellschaften vermutlich Einheimischer antraf, blieb er desorientiert, denn er setzte nun alles auf seine eigenen Beobachtungen und Einfälle.
Auf einem kleinen Platz, im dürftigen Streulicht elektrischer Leuchtquellen, begegnete ihm abermals die Frau, beinahe noch ein Mädchen, dieselbe Geste, wie vorhin, den Kopf bis zu den Augen verborgen unter dem gelben Tuch, sanft lächelnd. Wie hatte sie es geschafft, vor ihm hier zu sein?
Der Tourist gab zu verstehen, er wisse nach wie vor den Weg nicht und äugte an ihr herab, während sie zu ihm aufschaute. Ihre Haut war, auch in Anbetracht des launischen Wetters, zu hell für den Mittjuni. Sein unwillkürlich gesteuerter Blick glitt tief nach unten und rastete einen Lidschlag lang auf einem Sims aus zwei Fünferrreihen rot lackierter Fußnägel. Trotz Zweifeln folgerte er, an ein Nachtschattengewächs geraten zu sein, ein gepflegtes, gepflegt, wie eine Lohndirne vor ihrem ersten Einsatz an diesem Samstagabend sein konnte.
Sie verstand seinen Blick und, anscheinend nicht gekränkt, las sie aus seinen Augen, wofur er sie hielt.
Ohne Absichten, den Kontakt zu vertiefen, witterte er ein Eingreifen des Schicksals und scheute es in demselben Moment. Durch sein knappes Verweilen zeitlich zusätzlich unter Druck, ging er, und als er sich umwandte, verwechselte er ein im Gespräch befangenes, ähnliches Mädchen neben dem Eingang einer osteria mit der Frau, die ihm an diesem Abend zweimal erschienen war. Bevor der Deutsche wieder in das Gassengewirr eintauchte, begriff er, dass die mysteriös wandelnde, weißhäutige, lebende Statuette mit dem schulterlang herab reichenden Kopftuch sich auf der übersichtlichen piazza in nichts aufgelöst hatte.
Eine Venezianerin gab eine Plauderei auf, so abrupt, als werde sie von dem Einzelgänger mitgerissen. Fingierend, dass sie ihn nicht beachtete, stakste sie auf spitzen, metallbeschlagenen Absätzen vor ihm her, und obwohl er über einen aufgespannten Schirm verfügte und sie nicht, schritt sie mit schlanken, geraden Beinen aus, ohne ihm entkommen zu wollen. Das regelmäßige Tacken ihrer hochhackigen Riemchensandaletten hallte zwischen den Häuserkluften und schallte über die unscharf dunkelgrauen, von fallenden Wassertropfen genoppten canali, die sie querten, die modebewußte, federnde Italienerin dem Deutschen zwei bis drei Meter voraus, treppauf, treppab, über an- und absteigende Brückenvolten, hinter ihr der nach Jahrzehnten in Frauenbelangen geläuterte Einzelgänger. Ihm war, als biete er ihr Geleit, bis sie in den palazzo schlüpfen würde, in dem sie wohnte, nichts weiter, wenn er bis dahin nichts unternimmt, also ihr nicht Schutz unter dem Schirm anträgt. Ihren köstlichen Duft könnte er dann intensiver genießen, und dabei spielte keine Rolle, was sie sagten, wichtiger war: Sie zeigte ihm ihre prächtigen Zähne, und mit aufgesperrten Augen würden sie und er zu zweit durch das ruhende, nächtliche Venedig baseln.
Er wußte, wohin derlei oft führte. Er hatte die schicksalsdichten Momente erlebt, den Variantenreichtum dieser zunächst unscheinbaren und sich dann wie im Rausch offenbarenden Ereignisfenster und, was daraus hervorgeht, wenn zwei Menschen mit tausend Kilometer voneinander getrennten Lebensmittelpunkten für die Liebe optieren und alles andere ignorieren: kurzlebige, in Wahrheit unergiebige Episoden unter dem Stichwort Mann und Frau oder, schlimmer, desaströs implodierende Romanzen. Dass er dem wippenden Rocksaum auf Abstand folgte, hatte einen günstigen Effekt: Der müde Tourist gelangte endlich in die Zone mit den Weghinweisen, und von dort, vor Fahrplan-Ende, zu seinem Linienbus.