Denk-Tagebuch – ein Kulturdenkblog
Herbst 2024 – mit Leseempfehlungen
20. September
Nachsatz Bürgerrat für Maßnahmen gegen Desinformation„
Landen wir mit dem Bürgerrat endgültig im Totalitarismus? Handverlesene Bürger fordern weniger Meinungsfreiheit und mehr Zensur, um die Demokratie zu schützen. Betreutes Denken ist eben in. Durch eine Simulation von Bürgerbeteiligung versucht die Regierung, Totalitarismus als Demokratie zu verkaufen: Ich bin fassungslos wenn ich mir diese Empfehlungen eines von der Bertelsmann-Stiftung und dem Bundesinnenministerium gegründeten „Bürgerrats für Maßnahmen gegen Desinformation“ ansehe. Nachgedacht wurde da über ein öffentlich-rechtlich gesteuertes Zensurbüro: >>Eine ‚unabhängige‚ Stelle solle Medien Noten vergeben und sich dabei daran orientieren, wie diese mit Quellen umgehen, Fakten prüfen und ob sie Rügen vom Deutschen Presserat erhalten beziehungsweise durch das ‚Verbreiten von Desinformation‘ hervorgetreten sind. Wer dabei gut abschneidet, bekommt das Gütesiegel, jeweils für ein Jahr. Als ‚unabhängige‘ Prüfstelle fällt dem Bürgerrat das Medienunternehmen Correctiv ein.<< Deren „Unabhängigkeit“ habe ich ja schon häufiger kommentiert und bin froh, dass Nancy Faeser noch so klug ist, sich von dieser Empfehlung zu distanzieren. Nachzulesen in einem „Bürgergutachten zum Umgang mit Desinformation“.
https://forum-gegen-fakes.de/fileadmin/files/FGF/Buergergutachten_Forum_gegen_Fakes.pdfals pdf-Dokument.
17. September
Zbigniew Brzeziński Die einzige Weltmacht – endlich neu aufgelegt!
Zbigniew Brzeziński war einer der einflussreichsten außenpolitischen Regierungsberater und Publizisten der USA. Sein 1997 veröffentlichtes Buch The Grand Chessboard erregte großes Aufsehen und ist – leider – heute noch aktuell. Denn Brzeziński beschreibt offen, welch große Bedeutung die Dominanz in Euroasien und in der Ukraine für die US-Führung hat, und welche Interessen diese mithilfe der EU verfolgt. Werner, E. und ich hatten das Buch seinerzeit gelesen. Deswegen sind wir NICHT überrascht gewesen vom Ukrainekrieg oder den vielen politischen Bewegungen der Transatlantiker (USA, Scholz / Macron) sich an die Macht zu klammern usw.
Der Untertitel erklärt, worum es geht: „Amerikas Strategie der Vorherrschaft und der Kampf um Eurasien“. Brzeziński war Wahlkampf-Berater von Lyndon B.Johnson und Sicherheitsberater von Jimmy Carter, Professor für US-Außenpolitik an der Johns Hopkins University, Berater am „Zentrum für Strategische und Internationale Studien“ (CSIS) und Unternehmensberater. Er starb 2017. Seine Strategie lautet, >>keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen, der den eurasischen Kontinent unter seine Herrschaft bringen und dadurch für Amerika eine Bedrohung darstellen könnte.<< Die Bedeutung Eurasiens und warum die Dominanz, die die USA über Eurasien erreicht haben, so wichtig ist, erklärt Brzeziński so:
„Amerikas geopolitischer Hauptgewinn ist Eurasien. (…) Der Fortbestand der globalen Vormachtstellung Amerikas hängt unmittelbar davon ab, wie lange und wie effektiv es sich in Eurasien behaupten kann.(…) Nahezu 75 Prozent der Weltbevölkerung leben in Eurasien, und in seinem Boden wie auch seinen Unternehmen steckt der größte Teil des materiellen Reichtums der Welt. Eurasien stellt 60 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts und ungefähr drei Viertel der weltweit bekannten Energievorkommen.“
Diesem deutlichen Zitat ist leider nichts hinzuzufügen.
Zbigniew Brzeziński: „Die einzige Weltmacht“. Nomen. 296 S. 20€
15. September
40 Jahre Kunstmuseum in Ge-Buer
Bei der Neueröffnung des alten Kunstmuseums, habe ich die Sammlung fast nicht wiedererkannt. Der neue Blick auf >>alte<< Ausstellungsobjekte und Bilder ist sehr gut gelungen und es war an der Zeit endlich das Hauptsammelgebiet Kinetische Kunst entsprechend zu präsentieren. Und es war eine grandiose Idee das Ballett des MIR einzuladen – die Performances waren sensationell. Gerne wieder!
8. September 2024
Für mehr Streitkultur statt Desinformationsgesetzen
Anti-Desinformationsgesetze, Verbote von alternativen Nachrichtenportalen, Erweiterung des Volksverhetzungsparagraphen, Front gegen alle AFD-Wähler*innen und natürlich Diffamierung von Sahra Wagenknecht und dem BSW als Putintrolle. Es scheint, die Meinungsvielfalt und -freiheit in unserer vielbeschworenen Demokratie ist nicht ganz so beliebt bei den Regierenden samt ihren willigen Helferlein. Aber es gibt gerade wieder einige neue Bücher die sich für wirkliche Meinungsvielfalt einsetzen:
Wir sollten mehr Meinungspluralität zulassen, ruft Constantin Schreiber im Zeit-Online- Gespräch. Er meldete sich nach längerer Zeit des Schweigens mit der Streitschrift Lasst uns offen reden wieder zu Wort, nachdem er sich wegen seiner Kritik am politischen Islam vermehrt Hass-Botschaften ausgesetzt sah. In seinem neuen Buch plädiert er dafür, sich mit unliebsamen Positionen offener auseinanderzusetzen, selbst wenn es dabei beispielsweise um die AfD geht: >>Es gibt immer wieder diesen Aberglauben, ein Gedanke entstünde erst dann, wenn er öffentlich ausgesprochen wird. Ob Björn Höcke nun im Fernsehen auftritt oder nicht – sein Gedankengut teilen da ja aber bereits viele Menschen. Unter anderem auch, weil die etablierten Medien heutzutage keine Gatekeeper mehr sind. Umgekehrt werden Gedanken nicht unbedingt dadurch aufgewertet oder verführerischer, wenn sie im Fernsehen ausgesprochen werden: Ganz im Gegenteil glaube ich, dass viele Auftritte eher für Entsetzen und Aufklärung sorgen. Wir müssen da offener und mutiger werden.<<
Drei aktuelle philosophische Lektüretipps zu diesem wichtigen Thema:
Tim Henning. Wissenschaftsfreiheit und Moral. Beste philosophische Aufklärung zum Streitthema „Cancel Culture“. Berlin 2024
Julian Nida-Rümelin. „Cancel Culture“ – Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken. München 2023.
Svenja Flaßpöhler. Streiten. München 2024
5. September
Kein Casper-David-Friedrich-Museum in Weimar oder warum Goethe sich einmal irrte
7. September 2024 Bedeutung von Gefühlen in Politik, Krisen und Kriegen
Nein, es gibt leider nicht das größte Museum der Welt mit Casper David Friedrichs Bildern in Weimar. Dabei standen die Chancen anfangs gut, die anfängliche Faszination zwischen ihm und Goethe kühlte jedoch bald merklich ab. Zunächst ging dies von Goethe aus, der sich als überzeugter Vertreter des Klassizismus und der Genieästhetik mit der romantischen Sehnsucht in den Bildern von C.D.F. nicht recht anfreunden konnte. Also empfahl er diese nicht seinem Chef, dem Kurfürsten von Sachsen-Weimar, was C.D.F. natürlich gehofft hatte. Noch einmal gab Goethe C.D.F. eine Chance sich zu beweisen, der solle doch bitte drei Wolkenbilder nach genauen Vorgaben für ihn malen. Unmöglicher Auftrag für C.D.F., war doch gerade das Malen von Wolken für ihn quasi ein religiöser Akt in den er sich nicht hineinreden lassen konnte. Ende der kurzen Geschichte. Wer mehr lesen oder sehen möchte: Noch bis Anfang 2025 läuft die 3. große C.D.F. Ausstellung in diesem Jahr – diesmal in Dresden, wo er 40 Jahre lebte.
Lesenswert: Florian Illies. Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten. FaM 2023, geb. 25.- €
P. schickte mir diesen beeindruckenden und zugleich erschütternden Bericht. Leider ist es ja so, dass die Bedeutung unserer Gefühle und Emotionen weder in der Bildung, Erziehung noch im gesellschaftlichen Leben und am allerwenigsten in der Politik einbezogen und beachtet werden. Es gibt zwei Philosophinnen, die dies schon lange fordern: Agnes Heller und Martha Nussbaum. Wenn ich mir dann vorstelle, was es bedarf um nach einem noch nicht einmal beendeten Krieg wie in der Ukraine wieder die jetzigen „Feinde“ zusammen zu bringen, damit sie wieder in einem Land leben können? So viele Traumapsychologen und Sozialarbeiterinnen gibt es ja nicht einmal hier in Deutschland. Dabei schaffen wir es schon selbst nicht mit der Aussöhnung nach Corona oder zwischen östlichen und westlichen Bundesländern. Da möchte ich mir den notwendigen Prozess zwischen Israelis und Palästinensern nicht einmal vorstellen. Trotzdem muss man damit beginnen und solche Texte verbreiten wie diesen.
https://perspective-daily.de/article/3314-schwere-verhandlungen-zwischen-israel-und-palaestina-das-liegt-an-etwas-anderem-als-viele-meinen/O3n8e020
2. September
Von Rechten, Linken und anderen normalen Leuten
Manchmal geht es ja schnell mit der Wunscherfüllung im Universum. Ich hatte im Sommerkulturdenkblog beklagt, dass es kein Pendent gäbe zu Didier Eribons Buch Die Rückkehr nach Reims. Passenderweise nur einen Tag nach den Wahlen in Sachsen und Thüringen lese ich im Perlentaucher, dass der Historiker Clemens Tangerding genau das geschrieben hat:
Rückkehr nach Rottendorf. Von Rechten, Linken und anderen normalen Leuten. München 2024.
Der Einfachheit halber zitiere ich den Verlag:
>>In den sozialen Medien können wir leicht schreiben: «Wer Faschisten wählt, macht sich mitschuldig.» Wer Faschisten wählt, fährt aber auch unsere Kinder zur Schule, steht nachts an der Tankstelle und erneuert das Pflaster auf dem Kirchplatz. In Debattenräumen können wir uns leicht zurückziehen: Wir sind nicht aufeinander angewiesen, müssen uns nicht einigen und keine Aufgaben erledigen. Die meisten Menschen in unserem Land sind aber stärker von Erfahrungen geprägt als von Debatten. Clemens Tangerding führt uns weg von den Polarisierungen und dorthin zurück, wo die Fähigkeit, auch unter erschwerten Bedingungen zusammenzufinden, erstaunlich lebendig ist.
Wie so viele kommt Clemens Tangerding vom Dorf und ist fürs Studium in die Großstadt gezogen. Als promovierter Historiker kehrt er nun aufs Land zurück und diskutiert mit Bürgerinnen und Bürgern über die umstrittene Geschichte ihrer Heimatorte. In einem Mix aus Memoir und politischem Essay erzählt er von Begegnungen in Oerlinghausen und Radeberg, Dietramszell und Neuenbürg. Tangerdings Berichte überraschen: Der viel debattierte Rechtsruck und die antidemokratische Stimmung begegnen ihm so gut wie nicht. Stattdessen zeigen seine Erfahrungen mit verschiedenen Gruppen – seien es Feuerwehr-leute, Lokalpolitiker oder Heimatvereine – eine Vielfalt von Lösungsansätzen und Formen des Umgangs mit Dissens. Die Rückkehr nach Rottendorf, die Clemens Tangerding uns allen empfiehlt, ermutigt dazu, es mal ernsthaft mit gesellschaftlicher Pluralität zu versuchen und eine Vielzahl von Perspektiven auszuhalten, auch wenn sie unbequem sind. <<
Hier geht es zur Leseprobe beim Beck-Verlag (oder einfach den Titel und Autor eingeben):
Sommer 2024
4. – 9. August
Rittergut Positz, Pößnecks „Heinerle“; ein Überraschungsschloss und die „Fabelhaften Rebellen“ der Romantik in Ost-Thüringen
Unverhofft kommt oft – und so saß ich plötzlich im Garten des Gutshofes Positz im Saale-Orla-Kreis (Thüringen). Und ja, es klingt merkwürdig: wir waren schon wieder im Urlaub. Ungeplant allerdings – weil kurzfristig eingesprungen. Die Freundin einer Freundin hatte die Reise mit Familie geplant – dann kam eine Krankheit dazwischen. Stornieren war nicht mehr möglich, also Umfrage im Freundes- u. Bekanntenkreis, wer hätte Zeit, für einen Bruchteil des Preises. Hatten wir. Und landeten daher auf dem – so der Reiseführer – „edlen Rittergut“. Das liegt abseits von jedem Städtchen, ruhig und mit grandioser Aussicht im 360 Grad-Panorama, inmitten von Feldern und Wiesen. Eine tolle „Location“ (wie man heute werben würde) für Hochzeiten und Fortbildungen. Beides findet auch statt – bei unserer Ankunft war hier bereits eine größere Feier als „geschlossene Gesellschaft“ angesagt.
Am nächsten Tag stießen wir auf Brautpaar und Anhang vor dem Rathaus (eines der schönsten in Thüringen) im etwa 11 Kilometer entfernten Pößneck, wo die standesamtliche Trauung stattfand.
Der Ort erwies sich als eine Art Architekturmuseum. Nahezu jeder Baustil der letzten 300 Jahre kommt in Perfektion vor. Das Rathaus ein Traum in rot-weisser Spätgotik, dazu die unterschiedlichen Fabrikantenvillen nach dem Motto: Industriekultur einmal ganz anders. Und eine der schönsten Bibliotheken, die ich je gesehen habe. Die Bilke war früher eine Kirche des benachbarten Karmeliterklosters, wurde dann als Getreidespeicher umgebaut und dient jetzt als Stadtbibliothek.
Werner wollte unbedingt weiter zu dem 1876 unter dem Namen „Schokoladen- und Kakaofabrik Roland Berger“ gegründeten Werk. Nach einer wechselvollen Geschichte unter DDR- und Treuhandregime wurde die Firma 1991 privatisiert. Durch die „Heinerle Spiel- und Süßwarenfabrik“, die fünf Jahre später ihren Sitz von Bamberg nach Pößneck verlegte. Letztere stellte unter anderem in der Bundesrepublik „Heinerle Wundertüten“ her, die Werner noch aus seiner Kindheit kannte. Damals kosteten sie 10 Pfennig, enthielten meist etwas Puffreis und Kleinspielzeug. Leider war der Werksverkauf aber geschlossen. Weil Schokolade bekanntlich im Sommer schnell dahinschmilzt.
Da die Fabrik aber an der Straße zur Burg Ranis liegt, beschlossen wir, die knapp fünf Kilometer dorthin zu fahren. Zum Glück hatte die Beschilderung, der wir brav folgten, etwas anderes mit uns vor. Nach einer steilen Tal- und Bergfahrt landeten wir zwar in einem Fünf-Häuserdorf vor einem roten Schloss – aber Burg Ranis konnte das unmöglich sein…
War es auch nicht. Das Ganze hieß Brandenstein, lag auf einem Felssporn mit weitem Blick ins Tal und – wie wir bei der Gartenbesichtigung festellten – auf die praktisch gegenüberliegende Burg Ranis, von der sich einige Türme über den umgebenden Bäumen zeigten. Im Schloss sollte es ein Café geben. Die entsprechenden Tische und Stühle fanden wir an der Rückseite, aber unbesetzt. Ein paar Meter weiter ein terassenförmig angelegter Steingarten, der wohl einmal bessere Tage gesehen hatte und etwas pflegebedürftig schien. Von Menschen keine Spur. Dafür nochmals ein kleines Stück weiter eine Art Sitzbadewannenbottich, direkt am Rande eines Steilhangs und mit besagtem Traumblick.
Wir also wieder zurück, halb ums Schloss herum, zum Haupteingang, dessen Gittertor weit offenstand, und an dessen Briefkästen wir gedankenlos den Namen „Kahl“ registrierten; dann die kurze Auffahrt hoch und ab in die ebenfalls einladend weit geöffnete Eingangshalle.
Drinnen rechts hängen Kleidung und Schmuck auf Ständern; links schwingt sich eine Treppe im Bogen nach oben, zu einer kurzen Galerie. Und da, an der Wand des Treppenknicks, fällt es uns ins Auge und bei uns auch endlich der Groschen: Kahl, wie Fabian Kahl! Der extravagante junge Antiquitätenhändler aus der Fernsehsendung „Bares für Rares“ blickt uns von einem riesigen Plakat an der Wand entgegen. Wir kennen die Sendung und wussten, dass die Kahlfamilie – Fabian, Brüder und Vater mit ihren Gattinnen – auf einem Schloss in Thüringen residierte. Und genau darüber waren wir nun zufällig gestolpert. Sonntags wäre es uns lieber gewesen, denn nur dann ist das Café geöffnet und die Gemäldesammlung im ersten Stock zu besichtigen, wie uns der plötzlich auf der Empore auftauchende kleine Neffe Fabians erklärt. Letzterer sei, verkündet er weiter, im Übrigen gerade erst ausgezogen – nach Leipzig. Wie gut, dass Werner nicht mehr aktiv als Journalist arbeitet, sonst hätten die Zeitungen am nächsten Tag eine nette Schlagzeile. Schade, ich hätte die Gemäldegalerie gern gesehen, zumal manches Stück aus der Sendung wohl dort gelandet ist. (Am Sonntag kann man übrigens auch Antiquitäten im Schloss erwerben).
Burg Ranis, deren Zufahrt sich wirklich sehr versteckt, konnten wir nach zwei weiteren Fehlversuchen schließlich doch noch besichtigen. Zwar nur von außen, aber mit „Privatparkplatz“ hinter dem ersten Torhaus, denn Werner war kurzerhand die Auffahrt hoch und im Zentimeterabstand durch das Tor in die Vorburg gefahren. Auch hier – keine Menschenseele.
Ohnehin hatten wir in Ostthüringen den Eindruck, dass selbst in den Fußgängerzonen der kleinen Städtchen die Menschen eher dünn vertreten waren. Zumindest im Gegensatz zu unseren Einheitsladenstraßen, an deren fast überall gleichen Geschäften sich die Massen vorbeischieben. Zwar fanden sich auch in Pößneck oder Saalfeld die Namen Roßmann, Deichmann und Co. Aber meist an kleinen Geschäften, die trotz Renovierung viel von ihrer Ursprünglichkeit behalten hatten.
Jena
Am nächsten Tag fuhren wir nach Jena. Als erstes besichtigten wir das mitten im Zentrum, nahe des Hauptmarktes gelegene Romantikerhaus. Ich wollte es unbedingt sehen, da ich letztes Jahr das beeindruckende Buch Fabelhafte Rebellen von Andrea Wulf[i] gelesen hatte und die Romantiker*innen außerdem bei den Philosophinnen eine bedeutende Rolle spielten.
„Auf das Selbstdenken kommt alles an…“, lautete das berühmte Diktum der Salonière, Denkerin und Schriftstellerin Rahel Varnhagen. Sozusagen philosophisch „erfunden“ wurde das Selbstdenken in Jena, vor allem von Johann Gottlieb Fichte (Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre, 1794). Die Varnhagen war eine seiner frühesten Leserinnen und wie so viele andere Romantiker*innen begeistert von der Vorstellung, sich durch ein starkes Ich aus eigener Kraft aus Unmündigkeit und Unwissenheit zu befreien. Das Ich wurde zum Zentrum des Universums erklärt, da es um sich herum die Welt erschafft, unter anderem mittels Begriffen, Definitionen und naturwissenschaftlichen Beschreibungen der Welt.
Vier Jahre zuvor war ich zum zweiten Mal in Jena auf einer Bildungsdienstreise gewesen. Eine beeindruckende Stadt auch im Winter (Thüringen hat mir immer schon sehr gefallen). Dass Weimar das Zentrum der Klassik war wissen viele. Mir entging allerdings bisher, dass Jena sich nicht nur für die Romantik, sondern auch für die Philosophiegeschichte viel bedeutender zeigte. So lebte der im Wissenskanon untrennbar mit Weimar verbundene Geheimrat Goethe zwar in dieser thüringischen Stadt, da er dort im Dienste des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar – so der damalige Name des Kleinstaates – stand. Aufgrund seiner Freundschaften mit Caroline Schlegel sowie August Wilhelm und Alexander von Humboldt und vor allem Friedrich Schiller war er jedoch öfter in Jena als zu Hause in Weimar anzutreffen. Andrea Wulf hat das in ihrem Buch Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich (2023) geschildert.
Wulf beschreibt darin die kurze, nur knapp zehn Jahre währende Zeitspanne in Jenas Geschichte, in der um die 1790er Jahre eine kleine Gruppe von Denker*innen einen neuen geistigen Aufbruch wagte. Zu einer Zeit, da die meisten Staaten in Deutschland und Europa sich noch im eisernen Griff absolutistischer Herrscher befanden, stellten sie das Ich in den Mittelpunkt des Denkens, ihres Lebens und Handelns und entfachten damit eine Revolution des Geisteslebens in Europa. Denn, so Friedrich Schiller, „die Kunst ist eine Tochter der Freiheit“.
Fabelhafte Rebellen scheint mir zwar eine eher unpassende Bezeichnung für Goethe, Schiller, Fichte, Novalis, die Brüder Schlegel oder Alexander von Humboldt, aber sei’s drum. Wie ich schon im zweiten Band der Philosophinnen schilderte, standen die (zumeist jüdischen) Frauen mit ihren Salons im Zentrum der Romantik. In Jena war dies Caroline Schlegel, Frau und Mitarbeiterin von Wilhelm Schlegel und spätere Ehefrau und Mitarbeiterin des Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling. Alleine ihre Shakespeare-Übersetzungen ins Deutsche sind bis heute Maßstab setzend. Ihre Mitarbeit am Werk ihres zweiten Mannes ist kaum zu überschätzen.
Fabelhafte Rebellen ist ein wunderbar geschriebenes und gut zu lesendes Buch, das nicht nur die Bedeutung Jenas aufzeigt und den Fokus auf die gemeinsame Denk- und Schreibarbeit der Romantiker*innen legt, die die sogenannte Symphilosophie entwickelten.
Auch wenn die Ausstellung im ehemaligen Fichteschen Wohnhaus nur einen kleinen Einblick in das Zusammenleben der Frühromantker verschafft, sollte man sich das Museum ansehen. Besonders wenn man (oder frau) vorher Wulfs Buch las.
Nach dem Museumsbesuch und einer Kafeepause direkt am Marktplatz, wo wir uns einmal mehr über die „saftigen“ ostdeutschen Gastronomiepreise wunderten, spazierten wir anschließend noch zum direkt neben dem Theater gelegenen sogenannten Schillerschen „Gartenhaus“. Ein ziemlicher Dysphemismus, denn das Haus, in dem die Familie Schiller ab 1797 die Sommermonate verbrachte, entsprach eher einem gutbürgerlichenm Wohnhaus der damaligen Zeit, mit immerhin 2 Stockwerken und Raum für die vierköpfige Familie samt dreier Dienstboten.
Damals lag es inmitten von Gärten, Feldern und Wiesen kurz vor den Toren Jenas, heute liegt es inmitten der Stadt. Schiller konnte beim Schreiben in den Garten blicken. Sowohl von seinem Arbeitszimmer im 2. Stock des Hauses, als auch von dem zusätzlichen in der eigens erbauten Zinne, einem winzigen einstöckigen Häuschen in der südwestlichen Gartenecke. Nach Schillers Tod völlig verfallen, ist es heute wieder aufgebaut. Auch der schön große Garten wurde nach dem Originalplan rekonstruiert. Er verfügt über eine Außenküche – also keineswegs eine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Hier ließ der Hausherr kochen, da er keine Küchengerüche im Haus mochte. Goethe beschwerte sich noch Jahre später, dass die Dunstschwaden aus dem gegenüber der „Zinne“ gelegenen Küchenhäuschen bis zu seinem geliebten Steintisch zogen, an dem beide oft diskutierten.
Ob man will oder nicht – an Schiller und vor allem Goethe kommt man in Thüringen nicht vorbei. Einer von beiden war immer schon „damals“ irgendwo vor Ort gewesen. Nun sind die Leistungen Goethes als Kulturvermittler, Förderer wichtiger Persönlichkeiten wie beispielsweise der Philosophen Fichte und Schelling, diverser Naturwissenschaftler und vieler Kulturprojekte wirklich beeindruckend. Das „Universalgenie“ war für diese Art von „Networking“, wie das heute neudeutsch heißt, äußerst begabt. Kein Wunder, dass sich an alle möglichen und unmöglichen Stellen mit seiner ehemaligen Anwesenheit brüsten.
Manchmal auch mit dem Gegenteil…So besuchten wir auf der Heimreise kurz das vom gewaltigen Barockschloss Heidecksburg überragte 25.000-Einwohnerstädtchen Rudolstadt, wo Schiller und Goethe sich am 7. September 1789 erstmals trafen, in dem am östlichen Stadtende gelegenen Wohnaus der Familie von Lengefeld.
Aus Zeitgründen besichtigten wir das Schloss im Wesentlichen nur von außen. Innen lediglich die fünf Prunkschlitten im Foyer, sowie die riesigen Gipsabgüsse der beiden Köpfe von Castor und Pollux (die 5,90 Meter hohen Originalstatuen stehen auf dem Dioskorenbrunnen der Piazza de Quirinale in Rom) am Museumseingang, für deren Anblick der Geheimrat 1817 einst extra angereist kam. Auf dem Rückweg marschierten wir die vielen mit Kieseln mosaikartig gestalteten Stufen zur Stadt hinunter. Unten am Weg hatte der Besitzer eines am Schlosshang gelegenen Hauses besonders originell sein wollen: „Hier war Goethe“ – stand an der Gartentür und winzig klein darunter: „nicht“.
Wir hatten dieses Schild schon mehrmals woanders gesehen – beispielsweise in Hessen. Aber genau hier war es höchstwahrscheinlich völlig unangebracht. Zwar war Goethe wohl per Kutsche in den Schlossinnenhof vorgefahren. Aber der Weg an besagtem Hier-war-Goethe-nicht-Gebäude vorbei führt – direkt zum Schillerhaus derer von Lengefeld…
Unser kurzer Eindruck von der ehemaligen Residenz der Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt lautete jedenfalls: Noch einmal wiederkommen und einen Tag Zeit mitbringen. Für die Porzellan- und Gemäldesammlung beispielsweise. Erst recht für die Dauer-Ausstelleung rococo en miniature. Die beiden Freunde Manfred Kiedorf (1936-2015) und Gerhard Bätz (1938) schufen in 50-jähriger, zu DDR-Zeiten im verborgenen betriebener Arbeit, die Phantasiewelten Schlösser der gepriesenen Insel. Überwältigend schöne Miniaturen im Maßstab 1:50. Eine Entsprechung des Miniatur Wunderland Hamburg im Rokokostil, bei der man sich spontan fragt, warum dessen Schöpfer, Gerrik und Frederik Braun, das DDR-Kleinod nicht aufkauften: „Zehn gewaltige Schlösser im Kleinformat, allseitig geöffnet für intime Einblicke ins galante Leben. (…) Dutzende Fabelbauwerke und Ruinen, Tausende Figuren, Könige und Kurtisanen, Monarchen und Mätressen, Höflinge, Hofnarren und Hofschranzen“, schrieb die Welt 2009 in einem Artikel[ii] darüber. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Thüringische Landesmuseum Heidecksburg die Anlage bereits seit zwei Jahren für 400.000 Euro erworben. Für „Apfel und Ei“ sozusagen, wenn man bedenkt, dass die Hamburger bis 2024 rund 45 Millionen € verbaut hatten.
[i] Andrea Wulf. Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich. (2023)
2 https://www.welt.de/welt_print/article3102765/Baut-auf-baut-auf.html
17. – 19. Juli – Bericht aus Swiftkirchen
Drei Tage lang stand Gelsenkirchen im Zentrum nicht nur der Kulturberichterstattung der Weltpresse. Wie das? Die EM ist doch vorbei? Ja, aber mit drei Konzerten, noch dazu als Auftakt ihrer Deutschlandtournee, toppte der amerikanische Megastar Taylor Swift einfach alles. Ihre Fans kamen aus der ganzen Welt (in Deutschland sind die Tickets noch „preiswert“, in den USA werden dafür schon mal 1.000 $ verlangt), ließen mehr Geld hier als die EM-Besucher’innen – und sie hatten die bessere Laune. Wenn sogar die Deutsche Bahn besonders freundliche Ansagen für die Swifties macht, damit diese wissen, wie sie vom Gelsenkirchener Bahnhof weiterkommen zur Arena, dann ist allein das ein Ereignis. Und selbst die Stadtverwaltung zeigte sich von ihrer allerbesten Seite und taufte die Emschermetropole für drei Tage kurzerhand um in: Swiftkirchen… Es gab Swiftaufsteller, dazu auf dem Heinrich-König-Platz drei Tage lang Party in „Taylor Town“ mit einen DJ, der ihre Songs auflegte. Und natürlich wurde gebastelt – die Buchhandlung Kottmann bot nicht nur Taylor-Swift-Bücher an, sondern auch die Bastelsets für Freundschaftsarmbänder.
Hinter dem Hans-Sachs-(Rat)Haus entstand sogar eine opulente 3D-Malerei der beiden bekannten Streetart-Künstlerinnen Lydia und Vanessa Heitfeld.. Für die Fans – überwiegend weiße Mädchen und Frauen aus dem gehobenen Mittelstand (wer auch sonst hätte 220 € und mehr für ein Ticket bezahlen können) – war wichtig, dass sie ihre Freundschaftsarmbänder tauschen können. Das verbindet sie emotional untereinander. Überhaupt versteht es Taylor Swift auf der Emotionsskala ihrer Fans zu spielen. In jedem Konzert unterbricht sie an der gleichen Stelle, weil es „da vorne“ einer Person schlecht gehe und doch die Sanis mal vorbeischauen sollen. Oder sie schenkt einem kleinen Mädchen ihren Texashut – auch in jedem Konzert. Gekonnt ist eben gekonnt.
In den USA kannte praktisch kein Mensch Gelsenkirchen, als Taylor Swift ankündigte, ausgerechnet hier ihre Deutschlandtournee zu starten. Nun hat also die ärmste Stadt in Deutschland gezeigt, wie man eine Multimilliardärin und ihre zahlreichen Fans gebührend empfängt. Diese kostenlose Werbung weltweit ist unbezahlbar. GE empfiehlt sich so für weitere Großveranstaltungen. Auch Mick Jagger mit den Stones waren hier schon zu Gast, ACDC ebenfalls und demnächst Rammstein. An der Armut Gelsenkirchens wird dies aber kaum etwas ändern.
Gelsenkirchenfotos, aufgenommen während der Corona-Leere -2022 (c) WSch
Nachtrag 9. Juli 2024 – Die Le Monde und nochmal Pas-de-Calais
In der Le Monde liest der Politologe Frédéric Sawick der französischen Linke die Leviten. Ihren relativen Sieg verdanke sie dem Wunsch der Wähler, die extreme Rechte zu verhindern. Sie habe zwar noch Zuspruch in den Banlieues, in denen Mieter von Sozialwohnungen und Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund dominieren und bei den unter 35-Jährigen. Aber dies könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht nicht mehr verankert sei. Die Karte der RN-Wahlkreise ist da überdeutlich: Das Ressemblement National hat die Sozialistische Partei (PS) und die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) aus Nord- und Nordostfrankreich verdrängt. Pas-de-Calais ist dafür beispielhaft: 2012 hielt die Linke dort elf von zwölf Wahlkreisen; 2024 keinen einzigen mehr (zwei Wahlkreise sind macronistisch, zehn RN, von denen sechs Kandidaten im ersten Wahlgang gewählt wurden!)“ Wie zur Bestätigung dieses Artikels hat Macron nun die Rechten zur Großen Koalition aufgerufen…
4. – 8. Juli 2024 Wahl in Frankreich – Wetter, Natur und Kultur am Ärmelkanal
Wir sind noch mal für vier Übernachtungen an den Ärmelkanal gefahren. Glücklicherweise in einem Mobilheim mit Meerblick, sonst hätten wir bei diesem Mistwetter gleich wieder nach Hause fahren können. Niemand ist am Strand – bei Windstärke 8 abwechselnd mit Starkregen auch kein Wunder. Am Freitag schauten wir zusammen mit vielen Franzosen in der Sportbar das Deutschlandspiel gegen Spanien und nach dem Aus ernteten wir manchen wohlmeinenden Kommentar. Viele Franzosen hätten lieber Deutschland als Gegner im Halbfinale gesehen…
Eigentlich sollte an dem Wochenende ein großes Fest in Le Portel stattfinden. Wie so viele um diese Jahreszeit in ganz Frankreich: Zum einen beginnen die Ferien und zum anderen und zum anderen startet die Woche zu den Feierlichkeiten des 14. Juli, dem Nationalfeiertag. Aber fast wäre die Fete de la Flotille et du Patrimoine Portelois ganz dem Wettergott zum Opfer gefallen. Über die Hafenbauer von Boulogne sur Mer tobten noch am Samstag meterhohe Brecher und der Wind wehte uns fast um. Wenigstens am Sonntagnachmittag gab es eine kurzfristige Besserung und wir – konnten mit vielen anderen Menschen die Musik, die Darbietungen der örtlichen Vereine, die stolz ihr Patrimoine (Erbe) präsentierten und diverse kulinarische Genüsse genießen. So zeigte die Akademie Nationale de Cuisine ihr ganzes Können mit Produkten aus dem Meer. Sogar im Nachtisch gab es Salicorne (d.i. Queller oder Meeresspargel, der leicht pfeffrig schmeckt). Direkt nebenan liegt schließlich der größte Fischereihafen Frankreichs.
Die Region Pas-de-Calais ist die ärmste im Land. Nicht weit entfernt liegt die Stadt Reims. Der französische Soziologe Didier Eribon hatte sein Buch, in dem er sich mit dem Rechtsruck auf dem Lande – nicht nur seiner Eltern – beschäftigt Rückkehr nach Reims genannt.
Nicht weit entfernt ist auch die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux aufgewachsen, die es vom Arbeiterkind zur Lehrerin geschafft hatte. Ihre gleichermaßen autobiografischen wie ethnosoziologischen Beschreibungen des Lebens auf dem Lande, des neuen Prekariats und der Klassenkonflikte sind erschütternd. Zu diesem Zeitpunkt hatte der deutsche Soziologenmainstream gerade entschieden, dass sich die Klassenfrage ein für alle allemal erledigt hätte. In Frankreich hingegen analysierten, ausgehend von Eribon und Ernaux, viele Intellektuelle wieder die ungleiche Macht- und Vermögensverteilung, als zu lösende zentrale Aufgabe jeder Demokratie und Ursache der großen Probleme im Lande. Sie beschäftigen sich mit den Menschen dieser und anderer ländlicher Regionen, die sich abgehängt und nicht ernst genommen fühlen von der globalisierten Pariser „Kulturelite“ und sie demonstrierten mit den Gelbwesten. In Deutschland waren und sind „unsere“ Intellektuellen schnell dabei diese als rechts zu verunglimpfen. Diese einfachen Menschen: Fischer, Arbeiterinnen und Handwerker und natürlich das Personal in der Gastronomie, im Handel und dem Hotelgewerbe sind immer noch stolz auf ihre regionale Kultur, was wir bei diesem Fest wieder miterleben konnten. Die Frauen trugen Tracht und die Männer sind stolz auf ihr Handwerk des Fischens. Auch wenn wir ihren Dialekt kaum verstehen sind sie bemüht uns alles zu erklären. Heute ist der 2. Wahltag und die Franzosen zeigen mit der höchsten Wahlbeteiligung seit über 40 Jahren wie wichtig diese ist. Der neoliberale Macron, natürlich ein Young Global Leader, also Schüler des Weltwirtschaftsforum, ist für diese Menschen das abschreckende Beispiel für die abgehobene Elite, weshalb sie ihn lieber gestern als heute loswerden wollten. Genau dafür war ja mal Melenchon angetreten – den Macronismus zu beenden. Was natürlich wieder nicht gelingt. Dank seiner Machtspielchen bleibt Macron an der Regierung und hat noch erfolgreich die Linke unter seine Kontrolle gebracht. Nach der Wahl will er wohl mit den Rechten eine große Koalition eingehen. Das verkündet uns zumindest am Abend das französische Fernsehen.
Brecher an der Mole von Boulogne sur Mer bei Windstärke 8, am Wahlsonntag 2024 (Handyfoto)
Im Pas-de-Calais trauten wir uns das Wahlergebnis vorauszusagen, schließlich kommen Werner und ich aus der ärmsten Stadt in Deutschland – mit den höchsten Ergebnissen für die AFD. In Frankreich ist das nicht anders: Laut der ersten Hochrechnung gegen 22 Uhr hatte Le Pen (also der RN) hat auch hier die meisten Stimmen erhalten. Passend titelte am nächsten Tag die Neue Zürcher Zeitung „Aufstieg der Ausgegrenzten“. Es wäre gut, wenn die Vielen die „gegen rechts“ demonstrieren, sich einmal mit den Hintergründen für dieses Wahlverhalten beschäftigten. Einen guten Einstieg böte die Literatur von Eribon und Ernaux.
01. – 15. Juni 2024 Gardasee: Lugana, Espressotassen und Sportwagen der Superklasse
Es ist einfach nur schön bei bestem Wetter mal wieder am Gardasee in unserem Lieblingscafé La Fenice zu sitzen: Jugendstil vom Feinsten, direkt am See, mit Blick auf Sirmione. Wir genießen La Capricciosa – das sind drei Törtchen mit einem Espresso, einfach nur klasse. Schräg gegenüber können wir ein paar Flaschen meines Lieblingsweines erstehen – wir sind nämlich in San Benedetto di Lugana. Und nach diesem kleinen Stadtteil von Peschiera ist der Luganawein benannt. Wir waren auch wieder bei der Tochter des verstorbenen Künstlers Pino Castagna und haben drei Espressotassen – die signierten Originalmodelle (!) – für ein befreundetes Ehepaar erstanden und für uns ein paar blaue Dessertteller. Passend zu unserem neu in blau gestylten Balkon. (Man gönnt sich ja sonst nichts). Am Montag besuchten wir in Peschiera del Garda den Markt, um eine Bluse für meine Mutter zu kaufen. Anschließend bummelten wir durch das Örtchen, auf der Suche nach einem netten Lokal für den notwendigen Aperol. Direkt am Hafen in einem kleinen Park vor dem Museum standen vier derartig auffallende Sportwagen, dass wir stehen blieben. So etwas hatten wir noch nie gesehen: futuristisch designte High-Speed-Boliden der Firma Königsegg. Kein Wunder – sind diese Autos doch weit entfernt von so schlichten Sportautos wie Porsche, Lamborghini oder Ferrari, die man ja auch in Gelsenkirchen gelegentlich erblickt. Passend dazu auch die Besitzer, etwa derjenige des Wagens mit einem Kennzeichen aus Dubai. Wir haben noch nie erlebt, dass jemand so deutlichg sichtbar durch den „Pöpel“ einfach hindurchsehen konnte…
Natürlich versuchten wir zu schätzen, was diese Fahrzeuge wohl kosten würden. Schließlich möchte man ja doch wissen, was mit den vielen hinterzogenen Steuermilliarden und Aktiengewinnen (etwa bei Rheinmetall) so alles angestellt wird. Wir schätzten die Fahrzeuge auf eine halbe bis ganze Million pro Stück – und lagen ziemlich daneben: Sie lagen alle bei knapp unter drei Millionen €. Es handelt sich um Einzelanfertigungen in Kleinstserien, mit teils über 1000 PS. Luxus, dessen publikumswirksame Zurschaustellung man getrost als obszön empfinden durfte. Dagegen wirkte ein hinter dem schwarzen Königsegg (1. Foto unten) geparktes Mercedes-Sportcoupe schon fast wie ein Dienstbotenauto…
Bolide Nr. 2 der Firma Königsegg in Peschiera del Garda 2024, Nummernschild aus Dubai
26. Mai 2024, Mainz: Emilie in neun Szenen und das Licht von Chagall
Am 11.5.2024 hatte Emilie, Kaija Saariahos dritte Oper, Deutschlandpremiere am Staatstheater in Mainz. Eine für ihre Zeit bemerkenswert emanzipierte Frau steht im Zentrum von Saariahos Monodrama neun Szenen, das sie 2010 komponierte. Es ging dabei um Emilie du Châtelet, eine französische Mathematikerin, Physikerin und Philosophin zur Zeit der Aufklärung – und um Licht, diesmal als Metapher. Denn der Gebrauch der Vernunft sollte den Menschen frei machen und ein Licht gegen das Dunkel der Fremdbestimmung durch Klerus, Adel und jedwede Herrschaft über den Menschen setzen.
Emilie ist mit 42 Jahren noch einmal schwanger und ahnt, dass sie die Geburt des Kindes nicht überleben wird. Tag und Nacht arbeitet sie deshalb daran, ihr wichtigstes Werk noch zu vollenden: die Übersetzung und Kommentierung von Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Dabei schweift sie immer wieder in Gedanken ab, blickt zurück auf vergangene Liebesbeziehungen, sinniert über physikalische Probleme, wendet sich an ihr ungeborenes Kind, philosophiert über die Liebe und das Glück…
Die finnische Komponistin Kaija Saariaho zeichnet ein intimes und lebendiges Portrait, das die unterschiedlichen und teils exzessiven Facetten von Emilies Charakter offenbart: ihre Leidenschaft für verschiedene Männer, darunter auch Voltaire, und vor allem für die Wissenschaft. Mit ihrer feinsinnigen Musiksprache folgt Saariaho der Protagonistin durch eine schlaflose Nacht, haucht ihr über die Rhythmen des Orchesters Atem ein und lässt durch die besondere Klangfarbe eines Cembalos Emilies Epoche wiederaufleben. Zeittypisch klangstark und trotzdem meditativ, mit vielen hell klingenden Schlaginstrumente, Xylophon und Glocken unterstreichen die vier Protagonistinnen (drei Sängerinnen und eine Sprecherin) ihre Denk- und Gefühlswelten. Auch Emilie spricht in ihrem Werk immer wieder über das Feuer, das Licht und unsere Wahrnehmung von Farben.
Es ist sehr tragisch, dass Saariaho diese Deutschlandpremiere nicht mehr erleben konnte. Sie erlag am 2. Juni 2023 einem Gehirntumor.
Vor der Aufführung war ich noch im Stephansdom in Mainz und hatte das besondere Erlebnis die riesigen Glasfenster, überwiegend in Blautönen gestaltet, von Marc Chagall zu bestaunen. Im Alter von 95 Jahren hatte der Maler diese Arbeiten noch skizziert und eine „Vorhalle des Lichts“ gestaltet. Figurenlose Darstellungen, die an Blätter erinnern, an den Himmel, an Wasser in starkem Kontrast zu den biblischen Botschaften hinter der Kanzel.
Mai 2024 – Komponistinnen in Essen und Mainz
I
Im letzten Jahr hatte ich schon mal zum Thema Komponistinnen geschrieben, u.a. über das erste Sinfoniekonzert in GE, mit Werken ausschließlich von Komponistinnen. Es scheint, endlich sind ihre Werke ein Thema. Nach den Philosophinnen und den Malerinnen werden auch sie wiederentdeckt. Der WDR 3 gestaltet ganze Reihen, widmete Ihnen am 8. März 2024, dem Frauentag, sein halbes Programm und sie sind selbstverständlicher Bestandteil des Klassikprogramms geworden. Und immer häufiger werden ihre Werke auch in den deutschen Konzertsälen aufgeführt. So zuletzt in der Philharmonie Essen, die erstmalig unter dem Motto „HER: VOICE“ im Mai 2024 ein dreitägiges Symposium mit Vorträgen über und Konzerten von Komponistinnen veranstaltete. Sie werden nun jährlich eine solche Veranstaltung durchführen. Ich war natürlich dabei und habe die erste Faustoper überhaupt gesehen, komponiert noch zu Goethes Lebzeiten von Louise Bertin. 1833 sollte die Uraufführung dieser opera semiseria, also der halbernsten Oper in vier Akten, stattfinden. Den Fausto hatte sie als Hosenrolle für einen Mezzosopran angelegt. Aufgrund vielfältiger Unstimmigkeiten wurde die Uraufführung um ein Jahr verschoben, hatte dann aber großen Erfolg. Die Zeitung La Tribune de départments schrieb, das Publikum applaudierte enthusiastisch und das in einem Theater, in dem Mozart aufgeführt wurde. Rossini und Meyerbeer bescheinigten dem Werk Originalität in Klangfarbe und Melodie sowie bemerkenswerte dramatische Kraft. Trotzdem wurde die Oper nur dreimal aufgeführt – denn dann endete die Spielzeit.
Bis vor kurzem galt der Klavierauszug als verschollen. Bis dieses historische Material in der Pariser Nationalbibliothek wiederentdeckt und eine Neuedition erstellt wurde. Eine erste konzertante Fassung wurde 2023 in Paris aufgeführt. Erst knapp 200 Jahre nach der ersten Vorstellung 1831 erlebt Bertins Fausto eine beeindruckende Wiederentdeckung am Aalto Musiktheater in Essen.
II
Erlebt habe ich auch ein Sinfoniekonzert mit der Pianistin Lera Auerbach, die ihr 2015 entstandenes Klavierkonzert selbst einspielte. Die Komponistin, Pianistin, Dichterin und Malerin beschreibt sich auf ihrer Website als „moderne Renaissancekünstlerin“. Im Gesprächskonzert am Nachmittag des 10.5. erklärte die Universalkünstlerin auf die Frage, ob sie sich eher als spielende Komponistin oder als komponierende Pianistin sehen würde: Sie sei Dirigentin. Aber es kämpften stets viele verschiedene Identitäten in ihr. Die Musik, so erzählte sie dem Publikum, habe sie ausgewählt. Die Musik habe sie gefunden. Das Konzert für Klavier und Orchester (2015), das sie an diesem Abend zum zweiten Mal in Essen spielen würde, sei immer noch Work in Progress. Die erste Idee dazu hatte sie mit 14 Jahren – Anlass war ein Traum. Seither hat sie das Stück immer wieder neu bearbeitet und revidiert. Es ist eher tragische Musik, geht es doch um die großen Probleme in dieser Welt, Krieg und Frieden.
Mit dem Thema Komponistinnen beschäftige ich mich weiterhin. Was es dabei sonst noch zu entdecken gibt könnt ihr im November erleben, wenn wir am 1.11. (Vernissage) und 24.11. (Finissage) einladen. Es gibt eine Ausstellung mit Bildern von Malerinnen die Philosophinnen porträtiert haben, Musik von Komponistinnen wie Mel Bonis, Louise Farrenc, Lily Boulanger u.a. – live gespielt von Cathrin Gronenberg und ihrer neuen Combo, verbunden mit Kurzvorträgen von mir.